Die Lesung 2024

Von Anfang an stand fest, dass wir auch in diesem Jahr zu einer Lesung einladen würden. Im letzten Jahr hatten wir aus „Himmel über Charkiw“ von Serhij Zhadan gelesen, in dem er den Beginn des großflächigen Angriffs und die darauf folgenden Wochen als Schriftsteller und Aktivist sehr eindrücklich protokolliert hatte, um Zeugnis abzulegen über das, was an diesem 24.02.2022 über die gesamte Ukraine, insbesondere aber über seine Stadt Charkiw, hereingebrochen war.
Inzwischen war einige Zeit vergangen, weshalb wir bemüht waren, Texte zu finden, die über den weiteren Verlauf des fortdauernden (Über-)Lebens im Krieg Aufschluss geben konnten. Wir fanden diese in der Anthologie „Alles ist teurer als ukrainisches Leben“, das 2023 in dem kleinen Berliner Verlag fotoTAPETA erschienen war, der uns erlaubte, aus dem Buch zu lesen, ohne auch nur einen einzigen Cent dafür zu verlangen. Aus der Vielzahl der Texte ukrainischer wie auch internationaler Kulturschaffenden wählten wir jene aus, die auf besonders eindrucksvolle Weise von der ukrainischen Kultur, der Literatur, der Sprache und des menschlichen Miteinanders in einer Zeit äußerster Bedrohung erzählten und sich damit zugleich dem russischen Aggressor widersetzten. Diese Texte verbanden wir mit Gedichten der ukrainischen Schriftstellerin Victoria Amelina, die nach dem 24.02.2022 ebenfalls zu einer Aktivistin geworden und maßgeblich an der Aufarbeitung der Kriegsgräuel in Butscha beteiligt war. Sie starb am 1. Juli 2023 infolge eines russischen Raketenangriffs auf eine Pizzeria in Kramatorsk, nur 37 Jahre alt.
Foto von Olena Gerasymenko
Alarm

Luftalarm im ganzen Land
als führte man alle gleichzeitig
zur Erschießung
und zielte doch nur auf einen,
meistens auf den am Rande.

Heute bist das nicht du. Entwarnung.

5. April 2022
Zum Ende der Lesung lasen wir ein Gedicht des Lyrikers Maksym Kryvtzov. Es war das letzte Gedicht, das er schrieb, das er schreiben konnte. Er starb am 07. Januar d.J., gerade 34 Jahre alt, im Schützengraben und postete es nur 2 Tage vor seinem Tod. Das Gedicht trägt keinen Titel. Wir fanden es im Internet, so wie auch den Kommentar eines Followers, einer Followerin, dem wir nichts hinzuzufügen hatten.
Mein Kopf rollt von Wäldchen zu Wäldchen
wie ein Steppenläufer
oder ein Ball.
Meine Arme sind abgerissen.
Im Frühjahr
sprießen Veilchen daraus.
Hunde und Katzen stibitzen
meine Beine.
Mein Blut färbt die Welt
in ein neues Rot.
Pantone-Menschenblut.
Meine Knochen
versinken im Boden,
bilden eine Karkasse.
Mein Gewehr, durchschossen,
das Ärmste, muss rosten.
Meine Ausstattung, Wechselklamotten
bekommt ein neuer Rekrut.
Ach, möge er bald kommen,
der Frühling, damit ich erblühe -
endlich als Veilchen.
Dies der Kommentar: „Jedes Mal, wenn ein Zaungast der ukrainischen Tragödie seine Kriegsmüdigkeit beklagt, werde ich an das letzte Gedicht von Maksym Kryvtsov denken, das er zwei Tage vor seinem Tod im Schützengraben schrieb, aber auch an seinen gelben Kater, der ihm die letzten Monate treu zur Seite gestanden hat. Nun sind die beiden tot. Möge dir die Erde leicht sein, Maksym, ich bin dir gerne gefolgt‘.“
Um nicht in einem Meer von Tränen zu versinken, sangen uns die Vocalistinnen des Chors „Tscherwona Kalyna“ zwei Lieder aus dem reichen Schatz ukrainischer Volkslieder, mit denen sie uns die Herzen wieder erleichterten und den für sie wie für uns so bedeutsamen Tag einen würdigen Abschluss bereiteten. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die Beteiligung des Vereins für „Ukrainische Sprache und Kultur“ der Lesung einen partizipativen Charakter verlieh, über den wir uns wirklich glücklich schätzen durften.